Storyteller müssen sich entblößen

Manchmal sollte man sich entblößen – also frei und offen ohne Haus oder Panzer, in dem man sich zurückziehen kann, zeigen. Gerade als Storyteller gilt es, als Person nahbar zu sein.

Präsentationsguru Garr Reynolds beschäftigt sich mit wirkungsvolleren Präsentationen im Stil von Bill Gates oder Steve Jobs. Er schreibt wundervolle Bücher über die Kunst des Präsentierens. In diesem Zusammenhang spricht er vom „Naked Presenter“, da sich laut Reynolds jeder gute Vortragende (also Storyteller) aus seiner Schale befreien und sich verletzbar, angreifbar, ehrlich, authentisch und persönlich zeigen muss. Reynolds stellt folgendes Rezept auf, in dem er erläutert, warum Storytelling relevant ist. Er erinnert uns damit an die Kraft von gut erzählten Geschichten.

Der gute Storyteller – was macht ihn aus?

Reynolds rät dazu, als Vortragender seine Zuhörer zu faszinieren, indem man Unnötiges weglässt und sich auf das Wesentliche, die Kernbotschaft konzentriert. Er definiert folgende Grundtugenden, die für gute Präsentationen eine maßgebende Rolle spielen: Einfachheit, Klarheit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit und Leidenschaft. Das macht die Nähe, die „Geradlinigkeit“ des Geschichtenerzählers aus. Mit Geradlinigkeit der vortragenden bzw. erzählenden Person meint Reynolds, „sich ungekünstelt zu zeigen“, keine „Rolle“ zu spielen und die Bereitschaft, sich frei auf einen Dialog einzulassen.

Storyteller sind Ideengeber und schaffen ein Umfeld, das es dem Publikum (der Zielgruppe) ermöglicht, die Story weiterzuerzählen, sie weiterzutragen. So überleben Geschichten. Übersetzt bedeutet es, dass gerade im Digital Storytelling mehr ein Architekt, der das Umfeld für eine Story (eine Storyworld) erschafft, die Strukturen vorgibt und Spielregeln aufstellt. Das Gerüst, der Plan der Storywelt muss aber offen bleiben, darf nicht als einengendes Korsett empfunden werden, da dies nur ein „leeres“, nicht reflektiertes Nacherzählen hervorruft. So fordert Reynolds auch: „Seien Sie nicht langweilig!“ und erläutert weiter: „Nutzen Sie keine gestellte Sprache oder komplizierte Metaphern, Heldenfiguren.“

Die Fähigkeit, klar, bildhaft und leidenschaftlich zu erzählen, das gesamte Gehirn zu beschäftigen, ist Ziel eines jeden Storytellers. Auch wenn der Präsentationsguru folgende Tipps für Präsentatoren (Vortragende) aufgestellt hat, sind sie gleichermaßen für Geschichtenentwickler und -erzähler anwendbar.

Die Macht des Erzählers

Über die Jahre hinweg hat Reynolds gerade im Austausch mit Storytellern zehn Wege definiert, um bessere Präsentationen zu erstellen. Und Präsentationen und Vorträge haben natürlich viele Gemeinsamkeiten mit dem Geschichtenerzählen.

• Seien Sie persönlich: Erzählen Sie von Ihrem Umfeld, Ihren Kollegen, Erlebnissen einer Bahnreise. Nur wer persönliche Erlebnisse einbaut, wirkt authentisch, offen und emotional. Es entsteht so keine konstruierte, verkopfte Geschichte.
• Erzählen Sie einfach: Verwenden Sie einen einfachen Aufbau der Geschichte und nutzen Sie einfache Wörter. Fügen Sie niemals etwas hinzu, wenn Sie auch mit weniger auskommen, und versuchen Sie mit minimalsten Mitteln die größte Wirkung zu erzielen.
• Gefühle inspirieren zu Handlungen: Es geht nie nur um reine Information. Das Publikum möchte etwas erleben und empfinden. Das Ziel ist es, Botschaften emotional einzubinden und zu verpacken, sie so zum Anliegen der Zuhörer zu machen und diese zu Handlungen zu motivieren. Menschen erinnern sich häufiger an Aussagen, die ihre Emotionen erweckt haben.
• Überraschen Sie und bringen Sie etwas vollkommen Unerwartetes: Obwohl das Publikum sich in einer Erzählung wiederfinden möchte, sind die Aufmerksamkeit und Spannung sowie auch der Unterhaltungswert bei einem Überraschungsmoment sehr hoch. Tun Sie etwas Unerwartetes, das Gegenteil von dem, was nur „normal“ wäre. Überlegen Sie, ob Sie Ihre Geschichte eventuell mit einer schockierenden Aussage oder gar einem Geständnis beginnen könnten. Überraschungen erhöhen die Aufmerksamkeit und motivieren zur Konzentration.
• Zeigen Sie etwas Originelles: Seien Sie originell, einzigartig und unverwechselbar.  Öffnen Sie sich und zeigen Sie Ihre Persönlichkeit, überraschen Sie mit Witz, Humor, einem originellen Bild oder einer einzigartigen Figur.
• Seien Sie herausfordernd: Wenn Sie das Gehirn des Publikums aktivieren, erhöhen Sie dessen Aufmerksamkeit und Konzentration. Präsentieren Sie Thesen, Ideen, Sätze, Zitate, die das Publikum zum Nachdenken herausfordern (Vorsicht: Sie sollten Ihr Publikum dabei aber nicht überfordern). Häufig wird für provokative Fragen eine Figur des Weisen oder Narren eingesetzt.
• Seien Sie positiv, optimistisch, humorvoll: Wenn Ihre Erzählung das Publikum zu einem gemeinsamen Lachen, einer positiven Emotion verführt, haben Sie vieles richtig gemacht. Lachen setzt Endorphine frei, entspannt den Körper und kann sogar ein wenig die Perspektive des Publikums ändern.

Grundübungen für jeden Storyteller.

Rezept für gutes Storytelling à la Garr Reynolds

Reynolds stellt folgendes Rezept auf, in dem er erläutert, warum Storytelling relevant ist. Er erinnert uns damit an die Kraft von gut erzählten Geschichten.

1. Plot comes first! Zunächst fordert Garr Reynolds, sich auf die eigentlichen

Inhalte der Geschichte, den Plot, zu reduzieren. Notieren Sie Ihre Story-Idee, ohne sich sofort in Tools, Umsetzung, Technik oder Recherche mit Google und Co. zu verlieren. Nutzen Sie einfach Papier und Stift und unterstützen Sie Ihre Ideenskizzen mit Zeichnungen.

2. Denken Sie immer zuerst an Ihr Publikum. Kümmern Sie sich um die Wünsche und Bedürfnisse der Zuhörer – ob intellektuell, emotional oder bestenfalls beides – und berühren Sie so Ihr Publikum. Der Satz „Your story is really their story!“ sollte im Vordergrund stehen. Beachten Sie also, dass Ihre Geschichte auch die des Publikums ist oder wird. Wenn das Publikum sich in der Erzählung wiederfindet, sich damit identifizieren kann und emotional involviert ist, dann wird die Geschichte zur Story jedes einzelnen Zuhörers und hat somit das Potenzial, weitergetragen und erzählt zu werden.

Auch wenn Ihre Geschichte noch so persönlich und einzigartig ist, so sind bekannte Erzählmuster so universell, dass sie immer gleich funktionieren. Andrew Stanton, Direktor der Filmfirma Pixar (die u. a. den Film „Toy Story“ herausgebracht hat), bringt es auf folgenden Nenner: „Make me care. Please emotionally, intellectually, aesthetically – just make me care.“ Übersetzt bedeutet das so viel wie: „Sorgen Sie dafür, dass ich Anteil nehmen kann – egal ob emotional, intellektuell oder ästhetisch, aber lassen Sie mich Anteil nehmen.“ Damit haben Sie beinahe die halbe „Miete“ einer gut funktionierenden Story beisammen. Zudem betont Andrew Stanton, dass Storytelling zwar Guidelines hat, aber keinen strengen Gesetzen folgen muss.

3. Have a solid structure. Jede Story benötigt eine solide und gut durchdachte Struktur. Um den Filmemacher Billy Wilder zu zitieren: „Story needs architectural structure, which is completely forgotten once you see the movie.“ (Übersetzt bedeutet es, dass jede Geschichte eine Struktur benötigt, die aber – ist der Film erst einmal veröffentlicht – nicht komplett im Vordergrund steht.). Die Struktur ist das Gerüst, das Rückgrat einer Geschichte. Sie rückt in den Hintergrund und wird vom Publikum kaum bewusst wahrgenommen. Erst ihr Fehlen oder eine schwache Struktur wird als „Störung“ oder verworrene Geschichte empfunden. Eine der ältesten Strukturen einer Story, sozusagen die Basisstruktur, ist, dass jede Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Hier wird die Ausgangslage der Story festgelegt, der Konflikt sowie die Auflösung.

4. Don’t forget your message! So gut Ihre Erzählung auch sein mag, ohne Message, Kernbotschaft, Ideal oder Grund, warum Sie gerade diese eine Geschichte erzählen, ist sie eine leere Hülle. Die Message wird oft mit Emotionen verknüpft. Was denken Sie beispielsweise bei der Aussage „Think different“, wenn Sie dazu Vordenker, Künstler und Genies wie Picasso, Einstein und Gandhi abgebildet sehen? Möchten Sie sich nicht auch in die Reihe dieser unverwechselbaren Vorbilder eingliedern? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Foto in dieser „Ahnenreihe“ auftauchen würde?

5. Think big, but tell small, short and focused. Konzentrieren Sie sich auf das Relevante und entfernen Sie alles, was nicht relevant und wichtig für die Story ist. Alles sollte der Geschichte dienen und einen Grund haben, weshalb es in die Geschichte aufgenommen wird. Unwichtige Nebenschauplätze, die keinen Grund haben, nicht aufgelöst werden, sollten weggelassen werden. Um es bildlich auszudrücken: Erzählen Sie im Bauhausstil und lassen Sie barocke, überladene Schmuckelemente weg, die von der tatsächlichen Message ablenken.

6. Hook them early. Beginnen Sie mit einem Paukenschlag! Sie können Ihr Publikum sehr schnell und am Anfang gewinnen, wenn Sie es in die Geschichte einbeziehen. Starten Sie beispielsweise Ihre Story mit dem Satz „Ich wäre beinahe der Sekretär von Angela Merkel geworden …“, so gewinnen Sie schnell die Aufmerksamkeit des Publikums. Übertrieben könnte man auch die These aufstellen, dass gute Geschichten in der Mitte starten sollten. Oft fangen Geschichtenerzähler mit zu vielen Details an und bauen ihre Geschichte chronologisch, aber nicht spannend auf.

Storys müssen zunächst die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnen, um es dann so zu fesseln, dass es die Story nicht mehr loslässt, gedanklich abschweift. Wenn Sie den Helden der Story, z. B. Frodo aus dem „Herrn der Ringe“ vorstellen, müssen Sie nichts über die Geburt, die Eltern oder über seine Babyjahre erzählen. Das alles ist nicht relevant für die Story des Herrn der Ringe und langweilt die Rezipienten eher.

7. Show a clear conflict. Zeigen Sie ein Problem auf, das es zu lösen gilt, eine Konfliktsituation, denn daran kann das Publikum lernen und der Held wächst einem zudem emotional ans Herz.

8. Demonstrate a clear change. Alles verändert sich, die Welt verändert sich – zeigen Sie eine gut sichtbare Veränderung zur Ausgangslage. So entwickelt sich auch ein Spannungsbogen.

9. Show or do someting unexpected. Zeigen Sie etwas Unvorhersehbares und Unerwartetes oder reichern Sie den Verlauf der Story mit einem Spannungsverlauf (Spannungsbogen), unerwarteten Ereignissen und Hürden an.

10. Make them feel something. Emotionen erzeugen ist wichtig, damit das Publikum mitfiebern, sich identifizieren kann und die Botschaft im Gehirn verankert wird.

11. Be authentic! Seien Sie greifbar, öffnen Sie sich und gehen Sie ruhig auch das Risiko ein angreifbar zu sein. Nur wer eine greifbare, fassbare und keine künstlich erzeugte Person ist, wirkt glaubwürdig. Erzählen Sie beispielsweise von Ihren Erlebnissen, Ihren Erfahrungen oder Ihren Träumen.